Einführung 3. Teil – Sinn und Zweck


bzw. Sinn- und Zwecklosigkeit der Wahrsagerei,
Regeln

In der Tiefenwahrsagerei spricht der Tiefenwahrsager seine tiefe Wahrheit aus, d.h. er äußert all das, was latent in ihm ist und ihm einfällt; alles wird zuoberst gekehrt. Das geht über das Verbale hinaus und beinhaltet tiefe seelische, emotionale und körperliche Manifestationen. Ein weiterer Aspekt der Tiefenwahrheit neben dem Verbalen, dem Psychischen, dem Emotionalen und dem Physischen ist das Sinnliche, das besonders in der Innenschau und beim Wahrnehmen der genannten Aspekte sehr wichtig ist.

Was das Motiv des Kunden ist, Stunden der Tiefenwahrheit zu nehmen, ist ganz und gar dessen Angelegenheit. Die Gründe, die Interessenten ins Institut für Tiefenwahrheit führen und zu Tiefenwahrsagern werden läßt, können ganz verschieden sein, geht aber das Institutspersonal nichts weiter an.

Wir haben keine Kunden, die von uns etwas anderes erwarten als den Raum und die Zeit, sich in ihrem Schicksal ganz wahrzunehmen, und ein menschliches Gegenüber – den Wahrsageassistenten –, der die Äußerungen des Wahrsagers genau verfolgt und versteht und auch als Gesprächspartner zur Verfügung stehen kann.

Auf keinen Fall interveniert der Assistent; er fällt dem Wahrsager nie ins Wort oder unterbricht emotionale oder nonverbale Äußerungen. Der Assistent äußert sich nur, wenn er danach gefragt wird. In angebrachten Situationen (tiefer Schmerz, emotionale Not) kann er spontan Verständnis oder Mitgefühl äußern, dies aber nie auf eine störende und den Fluß der Wahrsagerei unterbrechende Art, die den Wahrsager vom Wahrnehmen und vom Wahrsagen abbringen würde; die emotionale Kompetenz der Institutsmitarbeiter ist groß. Die ganze Aufmerksamkeit sowohl des Tiefenwahrsagers als auch des Assistenten gilt nur dem Tiefenwahrsager.

Gegenstand einer Tiefenwahrsagestunde ist einzig und allein die Äußerung und die Anerkennung der tiefen Wahrheit. Es gibt seitens des Institutes keinen anderen Zweck oder Sinn.

Die Zwecklosigkeit oder Bedingungslosigkeit oder Unbedingtheit der Äußerungen von tiefer Wahrheit sind von größter Bedeutung. Deutsch sein, sagte Richard Wagner, sei, eine Sache um ihrer selbst willen tun. Die Tiefenwahrheit ist etwas sehr Deutsches. Das Institut für Tiefenwahrheit stellt die sich dadurch ergebende besondere Qualität deutlich heraus.

Nichtsdestotrotz leugnet das Institut nicht, daß das Äußern und das Erleben der Tiefenwahrheit gewisse Wirkungen und Auswirkungen auf das Leben des Kunden jenseits der Tiefenwahrsagerei haben kann, die der Tiefenwahrsagerei dann auch im Rückschluß einen gewissen Sinn verleihen können. Diese Sinnverleihung unternimmt der Kunde für sich allein.

Das Institut gibt einige Anregungen, welche Wirkungen und Auswirkungen das sein können und welcher Sinn sich also möglicherweise aus Stunden der Tiefenwahrheit ergeben kann. Das sind aber tatsächlich nur Inspirationen. Der Tiefenwahrsager kann mit Stunden der Tiefenwahrheit bezwecken, was er möchte; das ist ausschließlich seine Sache.

In dieser Rigorosität ähnelt die Wahrsagerei noch am ehesten einem Hospiz: wie es in diesem klar ist, daß es nichts mehr anderes gibt als zu sterben, so ist es in der Tiefenwahrheit klar, daß es in ihr nichts anderes gibt als die tiefe Wahrheit.

Tiefenwahrheit - Sinn und Zweck

Die Aufgabe des Assistenten ist keine andere als eine der Unterstützung und der Ermutigung. Auch gibt der Assistent eine gewisse Sicherheit. Er kann auch als „weiße Wand“ herhalten, d.h. auf ihn kann der Kunde projizieren, was immer ihm in den Sinn kommt. Er kann z.B. seine Wut am Assistenten auslassen. Das kann direkt und persönlich gemeint, oder es kann indirekt eine Projektion sein; es spielt keine Rolle, was es ist. Wichtig ist nur, daß der Kunde alles äußern kann und sollte. Hinterher kann er wahrnehmen, daß es eine Projektion war – oder auch nicht.

Der Assistent ist für den Kunden, falls das gebraucht ist, als Gesprächspartner präsent oder leiht ihm seinen Arm oder seine Schulter; der Kunde kann seine Hand fassen.

Ansonsten ist der Tiefenwahrsager ganz auf sich gestellt – wie im richtigen Leben –, aber genau das will er und sucht es am Institut für Tiefenwahrheit; jedenfalls bekommt er nichts vom Assistenten außer dem Gesagten.

Im Hospiz bekommt der Kunde einen Raum zu sterben, in der Tiefenwahrheit einen Raum für seine tiefe Wahrheit. Hier stellt er sich seiner ganzen Wahrheit, wie er sich eines Tages dem Tode stellt.

Es gibt in der Tiefenwahrheit kein anderes Ziel und keinen anderen Sinn als diesen. Es gibt weder Postulate, noch überhaupt eine Ideologie, keine weitere Theorie, keine Vorgaben oder Anweisungen – nichts dergleichen.

Wer etwas vorgegeben haben möchte, wer irgendeiner Lehre folgen möchte, ist in der Tiefenwahrsagerei fehl am Platz. Er kann das alles wollen, aber es ist nicht im Lieferprogramm.

Es gibt keine Regeln außer der, daß körperliche Angriffe auf den Assistenten oder auf den Kunden (Selbstangriffe, – Angriffe des Assistenten auf den Kunden sind sowieso ausgeschlossen) verboten sind. Zu zertrümmerndes Mobiliar gibt es nicht. Verbale Angriffe und körperliche Ersatzangriffe auf Kissen o.ä. sind ausdrücklich erlaubt; es wird zu solchen ermutigt.

Der Tiefenwahrsager macht seine eigenen Regeln oder hat schlicht keine; er macht, was er will, kann sich in aller Freiheit ausdrücken.

Hilfestellungen seitens des Assistenten werden einzig vom Kunden bestimmt. Der Kunde kann den Assistenten um alles bitten, und vieles wird der Assistent ihm geben. Sollte der Assistent dem Kunden eine Bitte verwehren, so wird der Kunde selbstverständlich seine Frustration darüber in aller Ausführlichkeit und Heftigkeit artikulieren können; dazu wird der Kunde stets ermutigt, weil an dieser Stelle die tiefe Wahrheit erst beginnt.

„Stunde“ der Tiefenwahrheit ist symbolisch und nicht physikalisch-zeitlich gemeint; die Dauer einer Wahrsagesitzung ist unbegrenzt; das Ende bestimmt der Kunde. Es können Limits festgelegt oder besondere Vereinbarungen getroffen werden.

4. Teil Einführung
Übersicht Einführung

Tiefenwahrheit - Sinn und Zweck