Post-philosophisches Vorwort zu Das Auftauen aus ödem Stumpfen in die Lebendigkeit


(Haupt-Text: Das Auftauen aus ödem Stumpfen in die Lebendigkeit – Text-Version)
(Video-Version)
(Kommentare)
(Veranschaulichungen aus dem psycho-medizinischen Bereich samt weiterer Kommentare)

Da-Sein und Lebendigkeit sind eigentlich identisch. Der Unterschied: Wer so gut wie vollständig seine Lebendigkeit verloren hat – was oft auf Intellektuelle zutrifft –, spricht eher vom Da-Sein. Das ist das Da-Sein schlechthin. Diesem Intello vermitteln keine Gefühle (Lebendigkeit) sein Da-Sein. Dieses Da-Sein kann dann nur angezweifelt und ständig thematisiert werden. Der Intello vermißt sein Da-Sein – nicht etwa seine Lebendigkeit –, weil er ja die Lebendigkeit nicht (mehr) kennt. Er kann nur das vermissen, was er kennt. Deswegen spricht er oft vom schieren Da-Sein oder Nicht-Dasein. 

Wer hingegen noch etwas seine Sinne beisammen hat, bemängelt in seiner Problemstellung eher, daß er zu wenig lebendig ist, weil er schon den Willen zum Leben hat; es soll nur mehr davon sein. Das Da-Sein ist hier eine Selbstverständlichkeit. 

Der Intello also Philosoph ist – wenn es gut kommt – Existenzphilosoph (Beispiele: Kierkegaard, Heidegger). Wenn es schlecht kommt, ist er Welt- oder Naturphilosoph, jedenfalls Philosoph des Äußeren, politischer Philosoph usw.  

Ein anderer Fortschritt gegenüber Welt- oder Naturphilosophie ist die Lebensphilosophie. Als Lebensphilosoph ringt sich Nietzsche zu einer Bejahung des Lebens durch. Nietzsche geht von seinem Meister Schopenhauer aus. Dieser hatte zwar glänzend den Willen als den Grund von allem erkannt, diesen aber nicht bejaht. Schopenhauer ähnelt darin einem Manne, der ständig davon spricht, daß size matters: Er weiß um diese Wahrheit, seine Komplexe lassen ihn nun aber diese Wahrheit ständig wiederholen in der leisen Hoffnung, es könnte nicht so sein. Vor allem aber wiederholt er diese Wahrheit aus einem Schmerz heraus: es ist eine Klage: ich bin zu kurz gekommen. Schopenhauers Kleinheit als Gesamtperson – nicht die eines einzelnen Organs – läßt ihn nun bockig, störrisch und rechthaberisch ständig wiederholen, daß alles nur Wille – Lebenswille, Leben – und daß die Vorstellung nur eine Selbstverarschung sei. Zumindest läßt er sich nicht länger verarschen, wobei er aber in seiner Kritik der Vorstellung noch nicht ansatzweise so weit geht wie nach ihm Stirner, für den alles nur noch Spuk & Sparren ist und der nicht von einer philosophischen Kategorie “Willen” spricht (Objekt), sondern sagt: “Ich will.” (Subjekt)

Nietzsche hatte heimlich Stirner studiert und fluktuiert nun ständig zwischen dem, was er “Nihilismus” nennt – die radikale Kritik der Schopenhauer’schen Vorstellung (“Gott ist tot”) –, und der sich selbst gestellten Aufgabe der Überwindung des “Nihilismus”. Nietzsche geht zurecht davon aus, daß es nicht bei der Zerstörung der Vorstellung und dem damit herbeigeführten Vakuum bleiben kann. Er kann aber seinem heimlichen Meister Stirner nicht folgen und unter Vorstellung und Sprache gehen: “Ein Ruck tut Mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab, ein Aufspringen schleudert den Alp der religiösen Welt von der Brust, ein aufjauchzendes Juchhe wirft jahrelange Lasten ab. Aber die ungeheure Bedeutung des gedankenlosen Jauchzens konnte in der langen Nacht des Denkens und Glaubens nicht erkannt werden.” (4) Damit wird der “Nihilismus” – die Philosophie in ihrem Endstadium – unterwunden und im Leben bzw. im Willen angekommen.

Nietzsche entscheidet sich nun nicht für einen redlichen Beruf wie Stirner (Milchhändler), sondern gibt sich weiter philosophisch-redliche Mühe, den Willen zu bejahen – und wird Lebensphilosoph. Seine Verklemmtheit und Gehemmtheit lassen ihn weiter im Kopf herumgeistern; er kann die Lebensenergie nicht durch seinen Körperpanzer in seine Gefühle fließen lassen. 

Etwas muß auf den “Nihilismus” folgen, etwas muß das Vakuum ausfüllen – das sind die Gefühle. Auch wenn Nietzsche über dieses Dilemma ein Vorbewußtsein hat, muß die Gleichzeitigkeit von geahnter tiefer Wahrheit und Unfähigkeit, diese zu verwirklichen, in Verrücktheit enden. 

Schopenhauer hat es nicht so weit kommen lassen und sich in seiner Weisheit klar für eine Seite entschieden: die Entsagung. Er hat sich zurückgezogen (seinen Schwanz eingezogen, um im Bilde zu bleiben). 

Was aus dem ersten Post-Philosophen (Stirner) geworden ist, wissen wir nicht so genau. (5) 

Die Post-Philosophie setzt nun an diesem Punkt der Umsetzung der erahnten Tiefenwahrheit an. Sie verschiebt die philosophische Debatte in den Körper und in die Gefühle selbst – und nicht etwa ins Reden über den Körper (wie Schmitz vom Leib) und über Gefühle. Die Post-Philosophie verzichtet auf das Stadium der Lebensphilosophie und überspringt diese. Sie geht also wieder einen Schritt zurück, setzt bei der Existenzphilosophie an und übt sich in strengster Phänomenologie. 

Die Post-Philosophie bleibt aber im Unterschied zur Existenzphilosophie nicht bei der intellektuellen und sensationellen Wahrnehmung stehen, sondern unterläuft diese ins Emotionelle; sie läßt sich ins Emotionelle und schließlich ins Nonverbale fallen. Die Wahrnehmung (veraltet auch “Wahrnahme”) hat zwei Aspekte: die wörtliche und die sinnliche. Wenn der Wahrnehmende konsequent ist, verläßt er die bloße Wahrnehmung und damit die Schopenhauer’sche Vorstellung. Denn was ist es, das er wahrnimmt? Es sind Absichten und Interessen, es sind Bedürfnisse und Gefühle. Bedürfnisse sind aber Interessen, und von Interessen sagt man, daß man sie wahrnimmt, und zwar in dem Moment, wo man sie realisiert. “Realisierung” heißt, im Leben zu sein oder anzukommen und die Vorstellung – also den reinen Wunsch, die Phantasie (den Sparren) – zu verlassen. 

Was unter der Vorstellung liegt – also die Konsequenz derselben –, ist der Wille, weiß Schopenhauer. Was der Wahrnehmende also unter seinen Vorstellungen entdeckt, ist das, was er will. Wenn ich etwas wahrnehme, ist es das, was ich (eigentlich) will. Alles ist Bedürfnis und Interesse, ist Produktion und Komsumption, ist Kampf ums Dasein, Fressen und Gefressen-Werden, dazwischen gibt es Inseln von Stillstand und Frieden. 

Der konsequent Wahrnehmende und bis dato nur Vorstellende wandelt anders gesagt die Vorstellung in Willen. Allein mangelte es bisher in der Community der Philosophen an dieser Konsequenz. Keiner der Philosophen – und auch Stirner als Proto-Post-Philosoph wahrscheinlich nicht – konnte aus dieser Sackgasse entkommen. 

An dieser Stelle mußte jemand von jenseits der Philosophie kommen und den gordischen Knoten durchhauen. Das war ein Psychotherapeut namens Arthur Janov. Er lehrte das konsequente Hinübergleiten aus intellektueller und sensationeller Perzeption ins Emotionelle. Er rundete den modernen Menschen ab: mit dessen Gefühlen. Dem Wahrnehmen würde – wenn man die Gefühle zuließe und sich in diese fallen ließe – das Ankommen im realen Leben folgen. Jemand, der sich vollständig fühle, wäre “real”, so Janov. Er nannte sein Verfahren der so verstandenen Realisierung “Primärtherapie”. Dies, weil er der medizinischen Tradition entstammte. Darin lag ein zum Teil verheerendes Erbe, das die Tiefenwahrheit zu korrigieren hatte. Ergebnis einer solchen Therapie sei es, beim Primären, also beim Ursprünglichen, beim Primordialen, also bei dem anzukommen, was Schopenhauer den Willen nannte. Unter dem Willen gibt es nichts. Wenn man dort ankommt und die Vorstellung über sich gelassen, quasi wegfliegen lassen hat – weil man unter sie hineingetaucht ist –, verschwindet nicht nur jegliche Dichotomie von Willen und Vorstellung, sondern auch die Spaltung der Person in einen Teil, der sich verzweifelt etwas wünscht, und in einen anderen Teil, der etwas hat, welche Teile sich gegenseitig fremd vorkommen, weil man nicht weiß, wer nun das Kommando hat. Die Spaltung ist nun unterwunden, und die Entfremdung verschwindet auf dem Boden des Willens. Die Einheit der Person wird hergestellt, und das Eigene tritt an die Stelle des Fremden. Stirner nennt denjenigen, der diese Konsequenz aufbringt, den “Eigner”.  

Das Philosophieren konnte also nun aus der Sackgasse abfließen und als bloßes Denken – als Post-Philosophie – wieder aktiv werden. Prompt rückte das Denken die Janov’sche Terminologie zurecht und sprach vom “Wahren” anstatt vom “Realen”. Denn die Philosophie hatte stets die Lösung des Objekt-Subjekt-Problems (ein anderer Begriff für Entfremdung) zum Ziel gehabt, und das objektivistische Wort “real” lautete auf subjektivistisch “wahr”. Objekt und Subjekt lag nicht etwa etwas Drittes zugrunde, sondern der Ausgang aus der Sackgasse führte allein durch das und immer weiter in das Subjektive. Nur dort konnte die Entfremdung verschwinden. 

Selbstverständlich fanden neben “real” – der Begriff eines schlecht philosophierenden Psychotherapeuten – auch sämtliche medizinischen Vokabeln wie “Neurose”, “gesund” usw. keinen Eingang in die Reflexion. Einzig blieb die Frage: Bin ich wahr? Lebe ich in meiner Wahrheit? Bin ich ganz Subjekt, d.h. ich selbst? Eigen? Weiß ich, was ich will, und handle ich entsprechend? Setze ich meine Vorstellungen zuerst in Willen und dann in Haben (Eigentum) um? Von nun an war alles ausschließlich auf Veränderung ausgerichtet, und zwar auf instantane Veränderung.  

Die folgende Stunde der Tiefenwahrheit behandelt nun einen Ausschnitt aus der skizzierten Entwicklung: die Aneignung der Lebendigkeit. Ausgangspunkt ist das Quasi-Nichts, die Quasi-Nicht-Existenz, das schiere Stumpfen in der existentiellen Ödnis. Durch strikte Phänomenologie entdeckt der Post-Philosoph sowohl das Gefühl für sich selbst als auch einen Hauch von Lebendigkeit in sich. Er schrammt bei seiner Annäherung ans Leben hart die Verrücktheit und droht als nietzschischer Bettvorleger zu enden, entkommt der Verrücktheit aber souverän und sicher in tieferes Da-Sein: das seiner selbst anstatt eines “Eigners”, schon gar nicht das eines “Übermenschen”. 

Die vorliegende “Stunde” der Wahrheit betrug 2 Stunden, mußte auf ihre wesentlichen Teile gekürzt werden und dürfte nun mit 1 Stunde für den Interessenten einigermaßen konsumabel sein. Die Wahrhaftigkeit gebot nicht nur die große Dauer, sondern auch eine ausgeprägte Langsamkeit des Geschehens, so daß auch noch innerhalb der wesentlichen Teile – zwischen jedem einzelnen Wort und sogar zwischen jeder einzelnen Silbe – der Konsumabilität halber teils um das Doppelte der Zeit gekürzt werden mußte. Es sei aber unbedingt darauf hingewiesen, daß – wie im vorliegenden Fall – die Findung der wahren Person enorm viel Zeit und Langsamkeit in Anspruch nehmen kann, nicht muß, denn das ist von Subjekt zu Subjekt ganz verschieden. Zum Zwecke der Demonstration des Möglichen und mitunter Notwendigen werden am Ende des Videos Passagen ungekürzt wiedergegeben. Die Langsamkeit rührt offenbar daher, daß es nach einem Nahtodereignis eine ganz besondere Erholungsphase geben muß; die Verschmerzung dessen, was zum Tod geführt hat, braucht sowohl die Heftigkeit der Bewußtwerdung als auch extreme Ruhe und Zeit. An dieser Stelle muß aber wieder betont werden, daß das Wissen um welche Ereignisse in einer Biographie auch immer – und besonders Spekulationen darüber – in der Tiefenwahrheit keine Bedeutung haben; hier geht es ausschließlich um Wahrnehmung und Reagieren. Die Tiefenwahrheit ist keine Psychologie!, sie beschäftigt sich nicht mit Ursachen für Verdrängung und Reaktionshemmung und -verhinderung; das Wissen um diese ergibt sich oder nicht. Der Wahrsager kann in einer Stunde etwas wahrnehmen, fühlen und verschmerzen, dessen Lokalisierung und Umstände er gar nicht wissen und gar nicht erinnern kann. Ein Neugeborenes kann nicht wissen, daß es “geboren” wird – es erlebt einfach den Geburtsvorgang –, und so kann sich niemand an seine “Geburt” erinnern, wohl aber an die Gefühle und Gedanken, die es dabei hatte; diese erlebt es mit voller Wucht – auch fünfzig Jahre nach dem Ereignis –, natürlich nur, falls dieses traumatisch verlaufen und bis dato unverschmerzt geblieben ist, ansonsten es sich später als Erwachsener auch nicht daran erinnern kann bzw. für seine Selbst-Habung nicht braucht. (Siehe die Grafik aus dem psycho-medizinischen Bereich am Ende des Vorwortes.)

Der Wahrsager kommt im Verlaufe der “Stunde” (der Sitzung, der Liegung) immer wieder auf bestimmte Themen zurück wie z.B. auf sein Bedürfnis nach Besprechung mit dem Wahrheitsbegleiter und nach Bestätigung. Das mußte in den Wiederholungen gestrichen werden. Die andauernden, hier herausgeschnittenen Rückfragen (“stimmt’s?”) sollte sich der Hörer immer mitdenken. Die Verunsicherung des Wahrsagers ist zum Teil enorm. Ein weiterer oft wiederholter und hier stark gekürzter Inhalt ist die damit einhergehende Selbstermahnung, ruhig zu bleiben, sich Zeit zu gönnen, genau hinzufühlen usw. Darüber hinaus wird auch der Wahrheitsbegleiter oft darum gebeten, den Wahrsager zu gemahnen, immer nur beim echt Gefühlten zu bleiben. Des weiteren bittet der Wahrsager den Wahrheitsbegleiter, ihn an geeigneten Stellen an den Kern seiner Person zu erinnern, und zwar wie dieser ihn selbst – in zahlreichen Stunden der Tiefenwahrheit vorher schon geäußert und vom Begleiter gut verstanden definiert. Ohne hier auf eine generelle Kritik an der Tiefenwahrheit einzugehen, soll doch hier auf die mögliche Kritik eingegangen werden, daß der Wahrheitsbegleiter trotz der hohen Konzentration des Wahrsagers auf seine Wahrnehmungen irgendeine Art Suggestion ausüben könnte. Dem ist nicht so. Inhalte, die keine Resonanz mit der rigorosen Phänomenologie des Wahrsagers haben, werden – sollte es überhaupt dazu kommen – mehr oder weniger vehement zurückgewiesen. Dem Wahrheitsbegleiter in der Tiefenwahrheit liegt jegliches Präskriptive und Normative absolut fern; er hat stets nur die Subjektivität des Wahrsagers im Sinn und interveniert nur helfend – wenn er darum gebeten wird – bei der Wiederherstellung von verloren gegangener Subjektivität und Wahrheit. Die Interventionen des Wahrheitsbegleiters sind im übrigen sehr selten. Die meiste Zeit über und über sehr lange Passagen hinweg überläßt er den Wahrsager – sich selbst.

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Grafik aus Arthur Janov, Das neue Bewußtsein [Der Primärmensch], 1975, S. 264

(4) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Reclam-Taschenbuch Stuttgart 1972, S. 164

(5) Der Autor dieser Zeilen arbeitet an einem Libretto, das das – fiktive – Leben Stirners nach seinem Verlassen der Philosophie zum Inhalt hat.