In Abschnitt 5 der Einführung wird die Tradition bezeichnet, innerhalb und dann aber auch außerhalb derer sich die Tiefenwahrsagerei sieht: die der Verbesserung des inneren Zustandes des Einzelnen.
Wieso ist die Tiefenwahrheit Teil einer Tradition und verläßt diese gleichzeitig? Worin bestehen die Neuerungen?
– Darin, daß es bei der Tiefenwahrsagerei streng genommen gar nicht um Verbesserung geht; weiter darin, daß der, der eine Besserung wünscht, den Besserungswunsch zugunsten der reinen, bedingungs- und ziellosen Wahrheit hintanstellen muß; und nicht zuletzt darin, daß daraus eine nie gekannte Tiefe und Intensität des Erlebens entsteht. Besserung wünschen und Besserung nicht wollen – das hört sich zunächst widersprüchlich an, ist es in gewisser Hinsicht auch, aber es hier wird keine dialektische Spielerei betrieben.
Wir sind in den vorigen Abschnitten unseres Textes zur Theorie der Tiefenwahrsagerei darauf eingegangen, daß die bedingungslose und zwecklose Hingabe an die tiefe Wahrheit bestimmte Wirkungen und Auswirkungen haben kann und daß sich daran anschließend in diesem Wirken ein Sinn dafür ergeben könnte, der jemanden sich auf die Praxis der Tiefenwahrsagerei einlassen könnte.
Wir sahen, daß diese Wirkung möglicherweise zu einer Besserung des inneren Befindens des möglichen Kunden der Tiefenwahrsagerei führen kann, woraus sich ein Motiv zur Unternehmung einer Verwahrheitung speisen könnte.
Wenn sich der Leser jetzt darüber wundern sollte, daß wir die Tätigkeitswörter so oft in der Möglichkeitsform benutzen, so sei daran erinnert, daß der Kunde selbst für sich den Sinn finden muß. Wir können nur inspirieren, denken aber, daß eine Inspiration angesichts der in unseren Breiten so oft beklagten und grassierenden Sinnlosigkeit nicht unangebracht ist.
Wir sind dem Leser also in Abschnitt 5 die Auskunft darüber nicht schuldig geblieben, in welchem Zusammenhang und in welcher Tradition das Angebot der Tiefenwahrsagerei steht und wie es entstanden ist: die Tradition der Verbesserung des inneren Zustandes einzelner Menschen gegen die in seinem Inneren liegenden Sperren, die ein besseres Selbstgefühl verhindern.
Zwar löst sich die Tiefenwahrsagerei aus dieser Tradition, aber gleichzeitig steht sie in gewisser Weise doch noch in ihr und kritisiert vergangene Verbesserungsmethoden, ja sie versucht sogar, die Verbesserungen zu verbessern – an dieser Stelle bringt sie sich wieder in die Tradition ein.
Wenn die verschiedenen Verbesserungsmethoden – wie wir im vorangegangene Abschnitt der Einführung andeuteten – bislang nicht sonderlich erfolgreich waren, so liegt das u.a. daran, daß das Ziel, also der Erfolg selbst in den Mittelpunkt des Interesses gestellt wurde, und vor allem, daß Ziel und Erfolg von den amtlichen Verbesserungshelfern und Verbesserungsanbietern selbst definiert wurden.
Das Ziel wurde sofort in den Blick genommen und angesteuert. Es hieß: tust du dies oder jenes (was wir dir sagen), wird es dir am Ende besser gehen.
Auf das Ziel, daß sog. Symptome verschwinden mögen, gehen wir erst gar nicht ein; wir sind dankbar für Symptome, weil sich in ihnen die Wahrheit manifestiert.
Wenn wir von Verbesserung sprechen, bezieht sich das immer nur auf das tiefe, wirkliche Eigenempfinden des Kunden selbst.
Daß bei den Verbesserungsmethoden immer ein Ziel verfolgt wurde, hat tiefe Ursachen (Angst des Verbesserungsanbieters vor den freien, tiefen Äußerungen des Kunden), aber es hängt u.a. auch mit dem ökonomischen Funktionieren unserer Gesellschaft zusammen. Doch nicht nur dieser Aspekt wird in der Tiefenwahrsagerei vernachlässigt, sondern jegliche Ziele werden beiseite gelassen: Wir können uns nicht mit der Verbesserung des Einzelnen, noch weniger können wir uns hier mit der Verbesserung der Gesellschaft befassen. Das ist nicht unser Thema. Es geht in der Tiefenwahrsagerei lediglich um die ziel- und zwecklose, rein subjektive, sublime und intime innere Wahrheit des Einzelnen.
Es muß an dieser Stelle – auch wenn es sich wiederholt – nochmals absolut klar gemacht werden, daß wir genau so wenig, wie wir dem Interessenten einen Sinn für die Unternehmung Tiefenwahrheit geben können (dieser Sinn ist nicht Teil unseres Lieferumfanges), wir ihm also noch weniger ein konkretes Ziel, und sei es eine wie auch immer geartete Besserung, geben können (auch dies ist nicht Teil des Lieferumfangs).
Die Tiefenwahrheit entstammt zwar der traditionellen Mechanik von Verbesserungswunsch und Verbesserungsangebot, sie mußte aber diesem Handel aus Verbesserungsnachfrage und Verbesserungsangebot entwachsen bzw. aus diesem herausfallen, weil dieser Handel in vielen Fällen – insbesondere im Falle des Erfinders der Tiefenwahrheit – offensichtlich keinen Erfolgt hatte und zur Entwicklung von etwas Neuem führen mußte.
Das liegt nicht etwa daran, daß es sich um einen Handel handelt – einen solchen betreibt die Tiefenwahrsagerei auch –, sondern daß ein Verbesserungsangebot schlechthin offeriert wurde (von Verbesserungsversprechen gar nicht zu sprechen).
Das tut die Tiefenwahrsagerei nicht. Sie tut es aber paradoxerweise und gar nicht mal aus dem Grund, daß sie ihren Kunden keine Verbesserung gönnt (sie hält sie für wahrscheinlich), sondern aus methodischen Gründen – womit sie sich wieder in besagte Tradition zurückbringt.
Was nämlich wie Beliebigkeit und Bedeutungslosigkeit aussieht – die Wahrheit um ihrer selbst Willen, Wahrheit als Selbstzweck –, das kann auch als Methode gesehen werden.
Man könnte nämlich sagen, daß sich der Wunsch nach Verbesserung des inneren Zustandes nur erfüllen wird, wenn der Wünschende niemandes Rezept befolgt und statt dessen lediglich die ganze Wahrheit sagt – also zunächst und vermeintlich zwecklos, ziellos, unbedingt und bedingungslos. Sowie er einen Zweck verfolgt, begibt sich der die Verbesserung Wünschende in eine Zukunft oder in eine Möglichkeit – immer aber begibt er sich außer sich.
Wir schlagen ihm mit unserer Zwecklosigkeit der Wahrheit vor, stattdessen sofort in sein Inneres zu gehen und zu sich selbst zu kommen. Das Ziel hört auf, ein Ziel zu sein, und wird direkt umgewandelt in des Kunden Aufmerksamkeit für sich selbst und Wahrnehmung seiner selbst.
Ein Wunsch nach Besserung kann hingegen sehr wohl und sogar sehr stark empfunden und somit ganz eindeutig dem Bereich des Wahren zugeordnet werden: der Wunsch ist die Wahrheit und somit in der Tiefenwahrsagerei willkommen und zu äußern. Das heißt, der Wünschende kann und soll, wenn dies sein Wille ist, seinen Wunsch nach Besserung ausdrücken – weil das ja seine Wahrheit ist, aber eben nur aus diesem Grunde. Er wird diese Wahrheit nicht in der Absicht oder mit dem Ziel oder mit der Erwartung aussprechen, daß das ihn bessert. (Oder eben doch. Das geht nur ihn selbst etwas an.)
Der Kandidat kann auch das Bedürfnis haben, etwas sofort loszuwerden, was ihm auf der Seele liegt, belastet oder quält, also unmittelbar eine dringende Besserung herzustellen. Aber ein unmittelbares und intensiv gefühltes Bedürfnis ist etwas anderes als ein abstraktes, intellektuell definiertes Ziel. Wovor wir in der Tiefenwahrsagerei strikt abraten, sind abstrakte Ziele wie „Gesundheit“, „Heil“ – oder eben auch schon „Besserung“. Der Wahrsageassistent kann freilich – wenn ein solches Gespräch Teil der vorherigen Abmachung ist – den Kandidaten fragen, was genau er sich unter einer Besserung seines Zustandes vorstellt. Dann wird der Kandidat auf seine derzeitige Verfassung verwiesen und empfindet das Leid darüber – und schon ist er in seiner Tiefenwahrheit.
Was wir anbieten, ist, daß der Kunde bedingungslos und ohne Hintergedanken seine Wahrheit ausdrücken kann, ja wir stellen dieses Angebot explizit als unser besonderes und einmaliges Angebot heraus. Wenn dem Kunden damit die Chance auf eine wie auch immer geartete Verbesserung seines Zustandes gegeben wird – um so besser. Wir geben ihm aber mit auf dem Weg – das zählt zu unseren unverbindlichen Inspirationen –, daß, solange er Verbesserung will (anstatt einfach sich selbst spontan und direkt zu äußern), er keine echte und in die Tiefe seiner Wahrnehmung gehende Verbesserung erreichen wird.
Um ein Vergleich zu benutzen: Es gibt von Richard Wagner eine Oper namens „Lohengrin“. Lohengrin ist ein sog. Gralsritter. Die selbstgestellte Aufgabe der Gralsritter ist es, Gutes zu tun. Bedingung dafür, daß das Gute getan werden kann, ist, daß die Gralsritter niemals ihren Namen sagen dürfen. Sie müssen bei ihren guten Taten unerkannt bleiben, um wirken zu können. Es liegt also eine vergleichbare Art von Bedingungslosigkeit vor.
Aber sagt der Gralsritter nicht seinen (wahren) Namen (er darf gar keinen sagen), ansonsten alles umsonst ist und nichts funktioniert, so sollte im Gegenteil dazu der Kunde in der Tiefenwahrsagerei – im übertragenen Sinne – nicht nur seinen Namen, sondern seinen wahren Namen sagen, also sich voll und ganz zu sich bekennen, falls er möchte, daß das Gute oder Bessere funktioniert.
Aber genug der Vergleiche, wir möchten keine Mißverständnisse aufkommen lassen oder auf eine falsche Ebene gelangen. Was paradox klingt wie eine fernöstliche Weisheitslehre, wie etwas Metaphysisches, Transzendentes oder Esoterisches, wie ein dialektischer Hokuspokus („es wird keine Besserung geben, solange eine Besserung gewollt ist“, Methode und gleichzeitig keine Methode usw.), ist genau all dies nicht, sondern es geht in der Wahrsagerei in Wirklichkeit um etwas rein Diesseitiges und Exoterisches: die einfache, ungeschminkte, brutale, häßliche, harte, schöne, anrührende usw. Wahrheit, wo es natürlich keinen Raum für Gralsritter und ähnliche Rettergestalten und Rettungslehren gibt. Gleichwohl kann es passieren, daß so viel Schmerz aufsteigt, daß um Rettung gefleht wird und man sich an ein überirdisches Wesen richtet.
Zen-buddhistische Gedanken sind auch insofern unangebracht und unnötig, als der Interessent sowieso jede Hoffnung auf jede Art von Wunder (Erleuchtung, Heilung, Gesundheit usw.) aufgegeben hat, bevor er beginnen wird, sich für Tiefenwahrsagerei zu interessieren. Heilsuchende werden einen großen Bogen um die Tiefenwahrsagerei machen. Hier gibt es einfach nichts für sie.
Erst wenn das Verfolgen eines Zieles aufgegeben wird, erst dann kann sich – nach und nach – eine Art Verbesserung einstellen. Das wird in der Regel unbeabsichtigt erfolgen. Alle Formen des von außen kommenden Sich-verbessern-Wollens werden gescheitert und der Betreffende in einer Art auswegloser Verzweiflung gelandet sein. Dann aber ist er reif für einen echten und tiefen Einsichtsprozeß.
Aber es kann – das sei wiederholt – genau so gut jemanden geben, der einfach und nur genau mit dieser Absicht seine ganze und tiefe Wahrheit einmal gründlich ausdrücken will, und zwar tatsächlich ohne jede Vorstellung von dem, was eine solche Verwahrheitung bringen könnte, und ohne jegliches lohnende Ziel.
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