Mehr zu Wahrheit und Politik


Souveränität

I

Ein junger Mann, von Fernsehjournalisten danach befragt, was er von einer politischen Wahl halte, die am Vortag stattgefunden hatte, sagt: „Es ist zwar eine Schande, daß die Rechtsextremen ins Parlament eingezogen sind. Aber die NPD könnte den anderen Parteien zu mehr Ehrlichkeit verhelfen.“ (ARD, Morgenfernsehen, 20.9.04) Sein Gesicht sagte: Die werden „den Etablierten“ Dampf machen.

Das heißt als erstes, daß die „anderen Parteien“, die großen, nicht unbedingt besonders ehrlich sind. Und als zweites heißt das – „was der eigentliche Hammer ist“ –, daß es eine Schande ist, ehrlich zu sein.

Wie ließe sich besser der Zustand unserer Gesellschaft in bezug auf die Wahrheit beschreiben? Läßt sich die Verlogenheit noch toppen? Vielleicht nur noch durch eine Szene im Fernsehen am Tage zuvor. Der Spitzenkandidat dieser „wohl einzigen ehrlichen“ Partei, Holger Apfel, sollte interviewt werden. Aber die Fernsehjournalistin ließ kein Interview, ließ kaum einen Satz zu. Immer wieder unterbrach sie ihn. Als das „Interview“ beendet war, schwenkte die Kamera hinüber zu einem anderen Journalisten, und der sagte: „Jetzt haben wir bereits ein Beispiel dafür erlebt, was die Rechtsextremen von Meinungsfreiheit und Demokratie halten.“

Nicht daß Sie, liebe Leser, denken, er meinte damit seine Kollegin (die man durchaus als rechtsextrem bezeichnen hätte können, wenn man darunter u.a. die äußerste Intoleranz gegenüber einer anderen Meinung versteht). Nein, er meinte den NPD-Spitzenkandidaten.

Gibt es jetzt eine demokratische Diktatur, oder wissen wir überhaupt nicht mehr, was Demokratie ist und bedeutet? Hatte Demokratie nicht etwas mit Meinungsfreiheit und dem freien Fluß von Informationen zu tun? War es nicht so, daß dieser freie Fluß etwas damit zu tun haben sollte, daß Entscheidungen getroffen werden können, die dem Willen möglichst vieler entspricht? Sollte durch den freien Austausch von Meinungen und Informationen nicht sowohl ein Höchstmaß an Erfolgswahrscheinlichkeit in unserem gemeinsamen Handeln als auch eine größtmögliche Stabilität der Gemeinschaft erzielt werden?

Nicht daß wir unbedingt wissen müssen, was Demokratie und überhaupt Politik ist, aber warum widersprechen wir uns dermaßen? Wir sagen das eine, aber handeln ganz anders. Kann es sein, daß wir uns in einem Geflecht der Unwahrheit verheddert haben?

Es geht hier nicht um Politik. In jeder Partei – und überhaupt überall – wird es mehr oder weniger ehrliche, und in jeder Partei wird es mehr oder weniger unehrliche Personen, wird es eine Mischung aus Ehrlichkeit und Unehrlichkeit geben, und zwar in jedem einzelnen Mitglied dieser Parteien. Ich habe dieses Beispiel nur gewählt, weil es illustriert, wie sehr wir uns in Widersprüchen befinden, die darauf hindeuten, daß viele von uns nicht zu den Dingen stehen, die sie selbst verkünden, daß wir also nicht ehrlich sind, d.h. uns nicht in unserer eigenen Wahrheit befinden.

Es geht hier also um nichts Politisches. Ich halte und verstehe von Politik generell nicht viel. Es kommt mir so vor, als sei dort die Wahrheit völlig verschwunden. Nur eine radikale Opposition kommt, wie Christian Worch sagt, in den Genuß, nicht lügen zu brauchen. Was nicht heißt, daß sie, an die Macht gekommen, unbedingt ehrlich bliebe.

Zweite Deutsche Wende

II

Die sog. objektive Wahrheit ist immer – je nach den verschiedenen subjektiven Wahrheiten, aus denen sie entsteht – veränderlich und muß unter den Subjekten und Subjektgruppen immer mehr oder weniger umstritten bleiben. Zu allen Zeiten in allen Gesellschaften – auch in den sog. freien und offenen Gesellschaften – geht dieser Streit so weit, daß die Träger einer angeblich objektiven Wahrheit die Wahrheit anderer unterdrücken und tabuisieren, deren Träger verfolgen, mundtot oder lächerlich machen, bestrafen, in Gefängnisse stecken und ermorden. Dies ist nicht der Fall in der Gemeinschaft.

Je mehr Menschen sich auf eine Wahrheit einigen müssen – in Massengesellschaften –, desto schwieriger wird der Zusammenhalt dieser Menschen und desto mehr muß mit einem Propagandaapparat (bei Orwell dem „Ministerium für Wahrheit“) die objektive Wahrheit erzwungen werden. Diese hat dann so gut wie nichts mehr mit den subjektiven Wahrheiten, aus denen sie sich eigentlich zusammensetzen sollte, zu tun. In kleinen Gruppen, die aus Menschen bestehen, die alle mehr oder weniger die gleiche Wirklichkeit teilen und sich persönlich kennen – in Gemeinschaften –, gibt es kaum Streit um irgendeine Wahrheit, erst recht keine Verfolgung Andersdenkender.

Im allgemeinen kommen von Subjekten in den exakten Wissenschaften gefundene Wahrheiten, indem sie von anderen einzelnen Wissenschaftlern bestätigt werden, noch am ehesten in den Ruf von objektiven Wahrheiten und können sich weit verbreiten. Doch selbst unter Wissenschaftlern kommt es zu heftigen Kämpfen, etwa bei arithmetischen Problemen wie dem der drei Millionen Juden, die sich während der größten Ausdehnung der deutschen Herrschaft unter dieser Herrschaft befunden hatten und von denen – wie einige Mathematiker errechnen – sechs Millionen vergast wurden, vier Millionen Wiedergutmachungsanträge gestellt und fünf Millionen den Staat Israel besiedelt haben. Die dieser Wahrheit notgedrungen folgenden endlosen mathematischen Debatten müssen dann regelmäßig von Nichtmathematikern, von Juristen, von Richtern, entschieden werden und enden stets mit der Inhaftierung eines der Diskutanten, dem eine falsch ausgeführte Addition und die Verbreitung einer offenkundig falschen Wahrheit vorgeworfen wird. Diese subjektive Wahrheit hat – weil sie sich nicht mehr am Informationsfluß beteiligen kann – dann keinerlei Chance, von anderen Subjekten geteilt und eine sog. objektive Wahrheit zu werden.

Die objektive Wahrheit ist immer eine Vereinbarung zwischen den Subjekten, etwas gemeinsam als wirklich vorhanden zu betrachten. Dann gilt von diesem Etwas als wahr, daß es z.B. fest, rot, warm oder flüssig ist. Dieses Etwas kann auch etwas rein Geistiges sein, eine Theorie, ein Begriff, z.B. „die objektive Wahrheit“. Es gibt so viele Wahrheiten über das, was „objektive Wahrheit“ ist, wie es Subjekte gibt, die sich für so etwas wie „objektive Wahrheit“ interessieren. Und sicher gibt es Subjekte, deren Wahrheiten von „objektiver Wahrheit“ sich einigermaßen ähneln oder gar überschneiden.

Obwohl es die objektive Wahrheit eigentlich nicht gibt, möchten wir sie auf keinen Fall geringschätzen. Wir legen nur Wert auf die Feststellung, daß sie keine eigentliche Wahrheit ist. Die sog. objektive Wahrheit ist notwendig. Die Einzelnen einer Gemeinschaft sollten auf einer gemeinsamen Grundlage handeln. Sie müssen ihre Wahrheit äußern und exponieren, auf daß sie sich untereinander so gut wie möglich abstimmen können. Der Erfolg Ihrer gemeinsamen Handlungen hängt einmal von der Wahrhaftigkeit jedes einzelnen Gemeinschaftsmitgliedes ab, von der möglichst unverfälschten Wahrnehmung der Welt, aber genau so von der Kommunikation zwischen den einzelnen Gemeinschaftsmitgliedern. Wir müssen uns verstehen und uns einig werden. Wir müssen vom andern möglichst genau wissen, was er will, damit ich mich auf ihn verlassen und ihm vertrauen kann. Will ich überhaupt mit ihm gemeinsam handeln? Wir müssen davon ausgehen können, daß wir von der gleichen Sache sprechen.

Deshalb müssen die einzelnen subjektiven Wahrheiten frei geäußert werden und die Informationen frei fließen. Durch den Informationsaustausch werden die Wahrheiten der einzelnen vertieft und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs, d.h. der Bedürfnisbefriedigung wächst. In der Gemeinschaft verhält es sich wie beim einzelnen: die Informationen müssen möglichst frei fließen. Die Gemeinschaftsmitglieder entsprechen den Organen und Sinnesorganen des Einzelnen, und in der Gemeinschaft gibt es auch so etwas wie ein Gehirn: der Gemeinderat oder irgendeine Repräsentanz. Aber ein Präsidium ist kein Gehirn. Und was zwischen Mitgliedern und einem Vorsitzenden fließt, sind Informationen, aber es ist nicht die Wahrheit. Diese ist den Subjekten vorbehalten; nur in deren Gehirn fließen die Informationen zusammen. Wenn die Existenz einer objektiven Wahrheit behauptet wird – daß es so etwas überhaupt gibt – und gar eine solche proklamiert wird, dann schwächt das die Gemeinschaft, weil die Entstehung und Ermittlung der wirklich existierenden Wahrheit – die der einzelnen – dadurch behindert wird und sich die Einzelnen nicht effektiv und erfolgreich verabreden und vergemeinschaften, d.h. einigen können. Abgesehen davon ist es eine Entwürdigung und Verletzung des Einzelnen und damit wiederum eine Schwächung der Gemeinschaft. Eine angebliche objektive Wahrheit ist immer die Wahrheit eines Einzelnen oder die einer Gruppe Einzelner. Diese wollen die anderen entweder unterdrücken und ausbeuten, oder aber die Beschaffenheit des Gemeinschaft ist dergestalt, daß zum gemeinsamen Handeln eine „Wahrheit“ ausgegeben werden muß und eigentlich keine schlechten Absichten Einzelner vorliegen. Man kann dann natürlich nicht mehr von einem echten Gemeinwesen sprechen.

Durch freien Fluß der Informationen zwischen den Einzelnen und zwischen diesen und einem Gemeinderat gibt es ein einfaches und schnelles Verabreden zu gemeinsamem Handeln. Im Kollektiv gilt – wie im Individuum –: Je mehr Wahrheit, desto besser funktioniert alles, desto zufriedener sind seine einzelnen Mitglieder.

Entsprechend muß eine Gruppe, wenn sie eine andere Gruppe ausbeuten will, vor allem den Informationsfluß beeinträchtigen, stören, kontrollieren, wenn nötig manipulieren. Gelingt es ihr, die fließenden Informationen abzufälschen, wird sie in ihrem Tun Erfolg haben. Sie muß die einzelnen Mitglieder dieser Gruppe davon abhalten, ihre wahren Bedürfnisse und Interessen zu erkennen oder muß ihnen fremde Interessen einreden.

Compact Magazin