Es gibt zweierlei innerer Wahrheit: einmal die aktuelle: die Wahrheit deines aktuellen Lebens. Über diese solltest du dir einigermaßen im klaren sein, wenn du das Leben bewältigen willst. Um ein Mehr an Klarheit zu erlangen, kannst du sie in der Wahrsagerei aussprechen und ausbreiten. Das wird aber wahrscheinlich nicht wirklich das Motiv sein, wegen dessen du in die Wahrsagerei kommst. Das wird eine andere Art Wahrheit sein, die aber mit der aktuellen Wahrheit in Verbindung steht: wir nennen sie die alte, noch nicht ausgesprochene Wahrheit. Zu dieser wird dich die aktuelle Wahrheit hinabführen, denn du wirst nach und nach in der Wahrsagerei merken, daß die Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten in der aktuellen Wahrheit nichts anderes bedeuten, als daß du im Vergangenen festgehalten wirst und steckst und also mindestens zwei Wahrheiten hast, die sich gegenseitig widersprechen. Grob gesagt hast du die Wahrheit von dir als Kind und die Wahrheit von dir als Erwachsenem in dir.
Die verschiedenen Wahrheiten in einem spreizen sich immer weiter auseinander, denn neue Konflikte treten hinzu, setzen sich auf die alten drauf, und die Wahrheiten wandeln sich immer mehr. Dieser Verwandlungsprozeß wird im Buch „Die Wahrheit – sie sagen und in ihr leben“ minutiös beschrieben; vor allem aber wird beschrieben, wie dieser Prozeß zurückgedreht werden kann, d.h. wie sich die alte Wahrheit wieder auflösen kann und nur noch die Wahrheit des Erwachsenen bestehen bleibt.
Die Psychoanalyse spricht davon, daß man auf einer bestimmten Ebene der kindlichen Entwicklung festgehalten wird, weil die sich in dieser Phase der Kindheit zeigenden Bedürfnisse (etwa der „oralen Phase“) nicht befriedigt werden. Von diesem Moment an versucht man immer wieder – auch wenn man längst erwachsen ist und viele andere Bedürfnisse dazugekommen sind, bzw. die neuen die alten Bedürfnisse abgelöst haben sollten – diese alten Bedürfnisse endlich zu befriedigen. Gleichzeitig geht man dem Schmerz über die Bedürfnisverweigerung aus dem Weg, so daß es zu einem „Wiederholungszwang“ kommt und man wahrlich zurückgeblieben ist.
So weit so richtig. Nur zieht die Psychoanalyse daraus die falschen therapeutischen Konsequenzen, sie setzt jetzt nämlich zu einer riesigen und öden Laberei an.
Dabei hatte die Psychoanalyse zuerst durchaus richtig begonnen (Redeverfahren, Katharsis). Auch Freud selbst „analysiert“ sich, was in diesen frühen Tagen noch etwas ganz anderes bedeutete als später der ganze sinnlose Kauderwelsch. Ausgehend von sexuellem Mißbrauch (Verletzung) in den Biographien vieler seiner Patienten, befragt er seine Geschwister und stößt dann bei sich selbst auf eine furchtbare Wahrheit: „Dann die Überraschung, daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte, mein eigener nicht ausgeschlossen.“ (1)
Der Wandel vom Verfahren des „freien Assoziierens“ (eine Frühform der Tiefenwahrsagerei) hin zur gähnenden Langeweile der späteren psychoanalytischen Therapie setzt nun ein, weil die entdeckten Wahrheiten zu schrecklich sind. Freud, der eine starke emotionale Bindung an seinen Vater hatte, konnte noch nicht den Schmerz zulassen. Erst später – mit dem Freud-Schüler Wilhelm Reich und vor allem dem anfänglichen Freudianer Arthur Janov – entdeckte man die Möglichkeit der Verschmerzung, d.h. das Zulassen des Schmerzes, auf daß er verschwinde. Freud dagegen wich dem Schmerz aus und gab entsprechend seine in der Klinik gewonnene Theorie der sexuellen Verführung zugunsten des folgenschweren Nonsens’ vom „Ödipuskomplex“ auf: Traumatisierungen von Kindern durch an ihnen vollzogene sexuelle Handlungen war ab jetzt nur noch Phantasieprodukt; vorpubertäre Kinder hatten von nun an sogar sexuelle Bedürfnisse, ja wünschten sich sogar den Sex mit ihren Eltern und anderen Erwachsenen! Nicht nur die Verschmerzung war von nun an verunmöglicht und wurden Opfer von Psychoanalytikern verhöhnt – der pädokriminellen Epidemie samt rituellem Mißbrauch war darüber hinaus nun Tür und Tor geöffnet. (Eine ähnliche Wandlung – dieser Mini-Exkurs sei hier erlaubt –, nämlich von der Entfremdungstheorie hin zum „dialektischen Materialismus“, d.h. von der Wahrheit hin zu ihrer Verschleierung und Begrabung unter einer riesigen Theorie, vollzog übrigens Karl Marx.)
Wichtig für uns an dieser Stelle ist jedoch nicht der riesige Skandal der Gewalt gegen Kinder (siehe u.a. „Höllenleben“ von Liz Wieskerstrauch), sondern nur die Methode, mit der man sich von „alten Wahrheiten“ befreien kann, indem man sie gründlich ausspricht. „Gründlich“ heißt aber: unter Zulassung sämtlicher emotionaler und körperlicher Äußerungen, d.h. eines sog. kathartischen Geschehens.
Die „alte Wahrheit“ sagt dir: suche immer wieder Umstände in deiner Aktualität auf, in denen du die alten, unbefriedigt gebliebenen Bedürfnisse befriedigen und Verletzungen verschmerzen kannst (heirate am besten deine Mutter).
Verletzungen können Dich auch in der Vergangenheit gefangen halten; wir können dann sagen, daß das Bedürfnis, die Verletzung aus der Welt zu schaffen – durch Anerkennung mittels Wahrheit, Verschmerzung –, unbefriedigt blieb. Die von dir aufgesuchten und eingerichteten Umstände gleichen immer denen der Vergangenheit, wo etwas nicht geklärt wurde. Du willst es immer wieder klären in der Aktualität – das läuft auf einen regelrechten Kampf hinaus. Aber dieser Kampf ist vergebens, du schaffst es einfach nicht. Du willst zwar nichts anderes als endlich die ganze Wahrheit zu sagen und damit dem Fluch des Vergangenen zu entkommen, aber du sagst es nicht richtig. Du bist ständig nur damit beschäftigt, die Umstände dafür zu schaffen. (Es ist wie ein Vogelmännchen, das ein Nest baut, in das dann aber nie ein Vogelweibchen kommt.) Du schimpfst über deine Frau oder sonst jemandem, aber du schimpfst nicht richtig, sprichst deine Wahrheit nicht ganz aus, sagst nicht die tiefe Wahrheit. Bitte fasse das nicht als Aufforderung auf, jetzt richtig deiner armen Frau auf die Ketten zu gehen! Gott behüte! Die Tiefenwahrheit geht nur dich etwas an, ist nur deine Angelegenheit, verschone deine Mitmenschen damit!
Deine tiefe Wahrheit, die kannst du in der Tiefenwahrsagerei erleben. Dort sagst du deine aktuelle Wahrheit, die unklar ist und du klären möchtest. Das, was unklar ist, wovon es zu viel Widersprüchliches und Verwirrendes in dir gibt, das ist die Vermischung der beiden Wahrheiten: die aktuelle und die sich unter dieser verbergende alte, nicht mehr bekannte, noch nie ausgesprochene Wahrheit. An diese mußt du nun ran, um klar zu werden. Dazu mußt du die Tiefenwahrheit zulassen, d.h. du mußt das, was dir nur die emotionale Begleitung der aktuellen Wahrheit dünkt und was dich verwundert (wieso reagiere ich denn so heftig?), zulassen: die Gefühle und die Reaktionen deines Körpers. Das ist dann die ganze, die tiefe Wahrheit. Denn nicht nur du – dein Kopf – will endlich die ganze Wahrheit sagen, es ist auch dein Herz, deine ganze tiefe Person aus Gefühl und Körper, die ihre Wahrheit sagen wollen. Leider tun sie es nie, weil du dazwischen funkst und es unüblich in unserer Kultur ist, aber vor allem, weil es nicht wehtun soll. Tut es aber leider. Es ist aber „nur“ der alte Schmerz; wenn du ihn fühlst, verschwindet er (Verschmerzung) und du wirst vom „Wiederholungszwang“ befreit.
Gefühl und Körper wollen es auf ihre Weise sagen, nicht auf die Weise, die man dir als „Wahrheit“ beigebracht hat.
Du kommst also in die Tiefenwahrsagerei aus den Gründen, die du hast. An diesen Gründen und an deiner aktuellen Wahrheit, du du so genau wie möglich aussprichst, wirst du dich hinabbegeben in die tiefe, in die immer noch in dir schlummernde und dich nie in Ruhe lassende Wahrheit deiner Vergangenheit. Voraussetzung ist aber das konsequente Aussprechen deiner „oberflächlichen“ Wahrheit. Folge niemals der Aufforderung, über deine Kindheit zu sprechen! So löst du nie die Verstricktheit in deine Kindheit. Die, die dir so was sagen, die wollen nichts über deine wahre Kindheit hören, die würden das nie aushalten! Du mußt immer nur und von Anfang an wahr sein und sprechen, und darfst auf keinen Fall eine Unterscheidung vornehmen von „aktueller“ und „vergangener“ Wahrheit. Diese Unterscheidung unternimmt früh genug deine Tiefenwahrheit, wenn du sie zuläßt; laß diese darüber entscheiden. Überlaß das deinem Körper; er wird dich mit seinen Signalen leiten.
Die aktuelle Wahrheit wird dich immer hinabführen, denn sie ist nicht von ungefähr dort an deiner „Oberfläche“; sie hat ihren Sinn, sie ist direkt verbunden mit deiner Urwahrheit, die du aussprechen mußt, willst du vom Fluch des Unklaren, d.h. von der vergangenen, noch nicht ausgesprochenen Wahrheit, befreit werden.
Nenne die aktuelle Wahrheit auf keinen Fall „oberflächlich“, schätze sie nie gering. Nimm sie am besten einfach nur als deine Wahrheit und sei dankbar, daß du sie hast. Also vergiß am besten alles, was ich hier gerade gesagt habe, fang an, mach, was du willst, gib dich der Wahrheit hin, egal welcher, Hauptsache der Wahrheit. Du wirst immer fühlen, ob sie eine ist, dein Körper wird es wissen, höre auf ihn, fühle in dich hinein.
(1) zit. nach Irmgard Hülsemann: Lou – das Leben der Lou Andreas-Salomé, München 1998, S. 398