„Tiefenwahrheit“ gibt es eigentlich gar nicht. Es gibt einfach nur Wahrheit oder keine Wahrheit.
Auch, wenn der Begriff „Wahrheit“ hier benützt wird, ist damit meistens Tiefenwahrheit gemeint, und umgekehrt.
Der Begriff „Tiefenwahrheit“ wird nur aufgrund der oberflächlichen Benutzung und Bedeutung des Begriffes „Wahrheit“ in unserer Kultur notwendig. Er bezeichnet die unter der in unserer Kultur üblichen, nämlich verbal verstandenen Wahrheit liegende, sich also sinnlich, emotional und körperlich äußernde Wahrheit.
„Wahrheit“ kommt also z.B. in einer mathematische Aufgabe vor: „2 + 2 = 4.“ Hier sind Herz, Gefühl und Körper nicht beteiligt.
„Tiefenwahrheit“ dann, wenn ein Kind diese Aufgabe zum ersten mal in seinem Leben löst: dann wäre Freude über den Erfolg im Spiel, und die Wahrheit wäre dann nicht: „2 + 2 = 4“, sondern: „2 + 2 = 4. Ich habe die Aufgabe gelöst und mich darüber gefreut.“ Es gehört einfach zu dem vom Kind Erlebten dazu und muß gesagt werden, besser gesagt gezeigt und ausgedrückt, denn die Gefühle „sagen“ etwas auf ihre Weise. Das heißt im übrigen nicht, daß wir das Rationale zugunsten von etwas Irrationalem verlassen. Gefühle sind nur dann irrational, wenn sie in ihrem primären Zustand unterdrückt werden.
Um ein Beispiel aus der Erwachsenenwelt zu nehmen: Wenn ein Betriebsleiter einen Angestellten entlassen und ihm die Entlassung beibringen muß, so könnte es sein, daß die Wahrheit nicht lautet: „Sie sind zum 30. August 2017 entlassen“, sondern: „Sie sind zum 30. August 2017 entlassen, und das tut mir sehr leid.“ Damit sei nicht gesagt, daß der Betriebsleiter dies dem Entlassenen so sagen sollte, daß er also die ganze Wahrheit aussprechen sollte. Es sei nur gesagt, daß das Leidtun zur Wahrheit dazu gehört. Was diese dann bedeuten mag, das steht auf einem anderen Blatt. Für uns ist hier nur von Bedeutung, daß, was in dem Betriebsleiter vor sich geht, die Wahrheit oder die tiefere Wahrheit ist.
Schön wäre es, wenn wir auf den Begriff „Tiefenwahrheit“ verzichten könnten. Aber allzu oft wird der emotionale Anteil an der Wahrheit einfach übergangen. Er gehört aber zur Wahrheit! Deshalb – also zur Unterscheidung zur emotionslosen Äußerung – müssen wir leider den Begriff „Tiefenwahrheit“ benutzen.
Wenn jemand in irgendeiner Situation etwas Wahres sagt, so kann es sein, daß Gefühle ins Spiel kommen, daß z.B. Tränen in die Augen treten. Dann ist es meist so, daß die Gefühle unterdrückt werden. Das ist oft auch vernünftig und richtig so. Wenn es aber um eine Rechenschaft geht, die man sich über sein Leben gibt, dann wird es die Arbeit am Institut für Tiefenwahrheit ausmachen, daß wir diese Gefühle nicht unterdrücken, sondern zulassen, denn sie sind Teil der Wahrheit, ja sogar der nicht sichtbare Teil des Eisbergs. Wenn wir den emotionalen Anteil an der Wahrheit zulassen, wandelt sich – so kann man sagen – die einfache, übliche, verbale, rein informative Wahrheit in Tiefenwahrheit.
Wenn die Wahrheit weh tut, wird in der Tiefenwahrsagerei der Ausdruck des Schmerzes nicht abgewiegelt. Jetzt geht die Wahrheit erst richtig los – sie wird tief. Wenn die ausgelösten Gefühle gebremst oder unterdrückt werden, können wir nicht von der ganzen Wahrheit sprechen. Die vollständige Wahrheit finden wir erst dann, wenn sämtliche beim Aussprechen der Wahrheit entstehende und geweckte Gefühle vollständig bis zur Beruhigung und Neubesinnung zugelassen und ausgedrückt werden. Erst dann – am Boden sämtlicher Tatsachen angelangt – finden wir eine tiefe Einsicht über uns und die Welt – eine völlig neue Sicht.
Der Wahrsagekandidat wird den Moment erkennen, wenn sich Wahrheit in Tiefenwahrheit wandelt; er wird immer mehr Gespür dafür entwickeln und wird seine Gefühle nach und nach als selbstverständlich zu ihm gehörig erachten.
Lassen Sie mich noch einen ganz wesentlichen Unterschied von Wahrheit und Tiefenwahrheit nennen: Es ist ein riesiger und entscheidender Unterschied, ob ich über etwas spreche, oder ob ich die Sache direkt ausspreche. Natürlich wäre es Unsinn – und das wiederhole ich absichtlich –, zu jeder Gelegenheit die Wahrheit auszusprechen! Wir würden uns schlagartig im Chaos befinden! Es soll nur eins gesagt sein: unser Institut ist nicht dafür da, daß dort über die Dinge gesprochen wird oder daß um die Dinge herumgesprochen wird. Unser Institut ist dafür da, daß dort in einem geschützten Raum die Wahrheit in ihrer ganzen Tiefendimension unverblümt und radikal, direkt und spontan ausgesprochen werden kann.