Ausgehend von einer gewissen Wirkung, die Stunden der Tiefenwahrheit haben könnten, und durch Verortung dieser Wirkung im Bereich einer Verbesserung des individuellen und subjektiven – inneren – Zustandes, woraus sich ein Sinn für die Tiefenwahrsagerei ergeben könnte, haben wir die Tiefenwahrsagerei in eine gewisse Tradition, nämlich die der Verbesserung des inneren Zustandes einzelner Menschen, sowohl eingeordnet als auch aus dieser entfernt bzw. herausgehoben. Grund für diese Entfernung aus der Tradition war, daß das Ziel der Verbesserung nicht erreicht werden kann, solange der Verbesserungswünschende sich von einem Angebot verlocken und korrumpieren läßt und das befolgt, was ihm der Verbesserungsanbieter vorschlägt: Befolge mein Programm, lerne mein Vokabular, mach, was ich dir sage, und dir geht es besser.
In der Tiefenwahrsagerei dagegen benutzt der Kunde nur die ihm gegebene Gelegenheit, in aller Ruhe und Ungestörtheit seine Wahrheit, die Wahrheit über sich selbst, zu entdecken, herauszufinden, zu vertiefen, zu ordnen, zu erleben, auszusprechen.
Er macht, was er will mit dem Angebot, und er interpretiert auch von Anfang an das Angebot anders als jeder andere und erst recht als das Institut für Tiefenwahrheit, das ja gar keine Interpretation des Geschehens vornimmt. Jedem steht es frei, mit dem Angebot was immer ihm beliebt anzufangen und es ebenso frei zu deuten. Es ist im wirklichen Angebot – im Grundangebot, das einzige, was wirklich verbindlich ist – nicht die Rede von einer „Verbesserung“ wessen auch immer. Der Kunde kann die Tiefenwahrsagerei auch dazu benutzen, daß es ihm schlechter geht als ohne die Tiefenwahrsagerei.
Wir treten zwar das Erbe von Methoden zur Verbesserung des inneren Zustandes – neuerdings „Psychotherapie“ genannt – an, aber gleichzeitig schlagen wir insofern dieses Erbe aus und brechen radikal mit der Tradition, als wir kein Ziel des Verfahrens proklamieren und ein solches auch gar nicht haben.
Unser Verfahren ist ziellos, wie es bedingungslos ist, es verdient nicht einmal den Begriff „Verfahren“.
Gleichzeitig stellen wir die Ergebnisse der Psychotherapie in den Schatten. Was sie anstreben und als Ziel verkünden (z.B. „bessere Anpassung“), das erreichen wir automatisch und ohne es erreichen zu wollen: Wer im Besitz seiner selbst ist und wieder ganz über seine Intelligenz verfügt und wieder realistisch ist, der paßt sich sehr gut an, der weiß genau, wie er sich in dieser Welt zu verhalten hat.
Es ist z.B. nicht das Ziel, daß der Tiefenwahrheits-Kandidat das Rauchen aufgibt, er tut es einfach nach einer gewissen Anzahl von Tiefenwahrheits-Stunden. (Oder eben auch nicht.) Er muß nicht mehr seine Wahrheit übertünchen und jedes mal nach seinem Glimmstengel greifen, wenn in ihm Wahrheiten hochkommen, die er nicht annehmen will. Beobachten Sie einen Raucher, so werden sie feststellen, daß er immer dann zur Zigarette greift, wenn ihn etwas berührt, das ihn zu einer Reaktion bringen könnte, die er aber nicht zeigen darf und die vor allem für ihn zu peinlich oder zu schmerzlich wäre. Das Rauchen ist ein Schutz vor unangenehmen Wahrheiten, und es hilft, Spannungen zu beseitigen, die aus Verdrängung von Wahrheiten stammen.
Der Wahrsager läßt seine Reaktionen in Wahrsagestunden zu und zeigt die peinlichen und unerwünschten emotionalen und körperlichen Zeichen wie Röte usw. Er läßt sie zu, worauf sie verschwinden.
Die Tiefenwahrheit tritt die Nachfolge der Psychotherapie an, die sich als unfähig herausgestellt hat, ihr erklärtes Ziel zu erreichen: die Entfremdung des Menschen abzuschaffen. (Unter „Psychotherapie“ verstehen wir hier nur die sog. humanistischen, und nicht jene Therapieformen, die Menschen als zu steuernde Maschinen behandeln, also die sog. Verhaltenstherapien, die gleichwohl durchaus auch einen Nutzen haben können.)
Es gibt nur eine Form der Psychotherapie, die hier eine Ausnahme bildet, und das ist die Primärtherapie. Diese ist aber dennoch zu wenig erfolgreich und wird noch entsprechend gewürdigt und kritisiert; selbst innerhalb der Primärtherapie gibt es nur eine geringe Anzahl von fähigen Therapeuten.
Aber was heißt schon „fähig“? Innerhalb jeder psychotherapeutischen Schule gibt es Stümper und gute Leute. Was aber zeichnet einen guten Psychotherapeuten aus? – Es sind die Umstände, die er seinen Klienten bietet, innerhalb derer diese zu sich selbst kommen können. Denn darin besteht die Aufhebung der Entfremdung. Des weiteren ist ein guter Therapeut der, der seinen Kunden die Gelegenheit bietet, Reaktionen nachzuholen, die der Kunde beizeiten nicht hat zeigen können. Auf all das, was dem Kunden widerfahren ist und was ihn von sich selbst weggebracht hat und auf das er nie hat angemessen reagieren können – darauf muß er nun endlich in aller Ausgiebigkeit reagieren können. Er muß, wenn es denn sein Bedürfnis ist, stundenlang wütend sein oder weinen können. Dieses Reagieren ist das Wiederfinden; durch dieses Reagieren wird man wieder man selbst.
Nur der Therapeut, der den Rahmen dafür bietet, in dem dies geschehen kann, ist ein guter Therapeut, ganz gleich, in welcher Schule er ausgebildet wurde. Wenn es eine solche Psychotherapie geben würde, bestünde keine Notwendigkeit, die Psychotherapie durch etwas anderes – die Tiefenwahrsagerei – abzulösen.
Da es aber keine Schule gibt, die ohne Vorgaben auskommt, die sie dem Kunden macht und ihn damit schon von Anfang an in seinem Ausdruck beschränkt, aber vor allem von ihm weg- anstatt zu ihm hinführt, unterschreiten wir jetzt die Grenze der Psychotherapie und wenden uns von ihr ab.
Wir verlassen den psychotherapeutischen Rahmen und unterbreiten ein neues Angebot auch deshalb, weil wir Menschen ansprechen können, die von vornherein kein Vertrauen in die Psychotherapie hatten. Wir sprechen diese Menschen an, die nicht dirigiert werden wollen, aber dennoch einen gewissen Bedarf haben.
Die Psychotherapie pflegt eine Sprache, die keiner verstehen kann und die die Kunden ohne zu verstehen in der Hoffnung nachbeten, daß es ihnen das Heil bringe.
Dabei ist es doch offensichtlich, daß der Kunde diese Theorien schon aus dem Grunde gar nicht verstehen kann, als sie doch Ergebnis jahrelanger Beschäftigung und Forschung sind. Ein Therapeut kommt nach 30 Jahren Praxis an seinen Kunden und an sich selbst zu einer gewissen Einsicht, was seinen Kunden hilft. Der Kunde kann diese Theorie nicht verstehen; man braucht das dem Kunden alles nicht zu sagen; wenn man es dennoch tut, ist das eine Art Blendwerbung und der Kunde läßt sich davon bestechen.
In den meisten sog. humanistischen Psychotherapien gibt es den Begriff des „Unbewußten“. Die Psychotherapie geht also davon aus, daß dem Kunden vieles nicht bewußt ist. Zu dem, was dem Kunden nicht bewußt ist, gehört, daß er nicht mehr weiß, was richtig und falsch für ihn ist, wofür er sich entscheiden soll und wofür nicht. Er kann gar nicht wissen, ob diese oder jene Psychotherapie gut für ihn ist. Er kann es nur vermuten. Und diese bloße Vermutung – gepaart mit Heilserwartung –, läßt ihn zu einem Psychotherapeuten gehen und dessen Vorgaben in der Hoffnung befolgen, er überwinde die Entfremdung. Ab jetzt redet er sich ein, daß alles gut funktioniert und verbringt Jahre in einer Therapie, die ihn im Grunde genommen nicht voranbringt.
Die Tiefenwahrheit dagegen macht das nicht nur nicht, sie hat schlechterdings keine Theorie, die der Kunde verstehen müßte; sie sagt ihm, daß er bei ihr nichts anderes erwarten könne als die Gelegenheit, seine wahren Gedanken und Gefühle gründlich auszudrücken und zu seiner Wahrheit zu finden. Und wenn die Tiefenwahrheit doch – wie hier – ins Theoretisieren abgleitet, ist das ein Fehler, der dem Umstand geschuldet ist, daß die Tiefenwahrheit versucht, den Übergang von einem Paradigma zu einem anderen nachvollziehbar zu machen. Gänzlich auf Theorie zu verzichten, wäre zu revolutionär und würde niemanden ansprechen – wäre zu primitiv. Immerhin verstecken wir die Theorie in den hinteren Abschnitten. Wenn die Tiefenwahrheit theoretisiert, so ist das erstens nicht neu (diese Theorien gibt es alle schon) und zweitens – was der entscheidende Punkt ist – entstehen bei uns aus diesen Theoremen keine Ideologeme oder Vorgaben, was der Kunde in der Wahrsagerei zu sagen und wie er sich zu verhalten hätte.
Wo das nicht der Fall ist (es gibt ohne Frage gute Ansätze in der sog. humanistischen Psychologie), da erlaubt sie dem Klienten nicht, sich vollständig gehen zu lassen – dieses vollständige Gehenlassen wiederum haben wir der Primärtherapie zu verdanken. Die Primärtherapie aber macht auf der anderen Seite wieder oft ihren Kunden verwirrende Vorgaben. Janov hat seit den 1960er Jahren sehr viel dazugelernt und dirigiert seine Kunden heute weitaus weniger.
Die guten Seiten der „kundenzentrierten“ usw. Therapie und der Primärtherapie müssen übernommen, beider schlechte Seiten verworfen werden.
Die Tiefenwahrheit verläuft um so erfolgreicher, je weniger Theorie im Spiel ist und je weniger abstrakt und abgehoben die Äußerungen des Kunden sind. Alles, was nicht wirklich dem Kunden eigen ist als Gedanke oder Gefühl, was nicht wirklich seinem Kopf oder seinem Herzen entspringt, ist von Übel. Wie soll er seine Eigenheit finden, wenn er nicht sofort damit anfängt?, und sei das Eigne noch so gering. Die Tiefenwahrheit sagt darüber hinaus, daß der Kunde keinen Erfolg anstreben, sondern nur wahr sein soll, welches Ergebnis auch immer daraus folgt.
Ein weit verbreitetes Übel der Psychotherapie ist der Verweis auf die angebliche Kindheit der Kunden. In diesen ständigen Rückführungen, die nichts anderes als Dirigismus und Vorschriften sind, erkennt Peter Sloterdijk in seinem Buch „Weltfremdheit“ sehr richtig einen der „schädlichsten Irrtümer“: „Die publizistischen Erfolge der Psychoanalyse haben in der öffentlichen Meinung des Trugbild entstehen lassen, daß psychotherapeutische Formen der Sorge um sich selbst eo ipso eine Reise in die Kindheit implizieren. Gegen diesen allgemeinen Trend ist immer wieder zu erklären, warum solche Ideen einen der schädlichsten Irrtümer der modernen psychologischen Ideologie darstellen. Der Zeitpfeil der wohlverstandenen psychotherapeutischen Arbeit hat immer strikt nach vorne zu zeigen – denn Psychotherapie ist keine Reise in die Vergangenheit, sondern eine Aufholfahrt des vergangenen Subjekts in seine Gegenwart.“ (Frankfurt am Main 1993, Kapitel „Welthaß und Neuanfang“, S. 286/287; vgl. Selbstversuch)
Die Tiefenwahrheit macht null Vorgaben, ermutigt lediglich den Kunden dabei, auf seine Kindheit sprechen zu kommen, wenn dies spontan und echt ist.
Die Tiefenwahrheit mußte aus der Psychotherapie notwendig entstehen, weil diese sich als nicht fähig erwiesen hat. Ich habe die beste, die ernsthafteste und mit Abstand radikalste Art von Psychotherapie – die Primärtherapie – versucht, und diese ist an mir ziemlich unspektakulär gescheitert. Man hat mir nicht die Chance gegeben, zu mir selbst zu kommen. Arthur Janov hat mir Jahre später geschrieben, daß mein damaliger Therapeut „inkompetent“ gewesen sei. Das ist doch zumindest verwunderlich, wies Janov doch stets mit größtem Nachdruck darauf hin, daß nur von ihm ausgebildete und an seinem Institut arbeitende Therapeuten kompetent seien. Wie das? Aber darauf und auf andere Widersprüche werde ich an anderer Stelle ausführlicher zurückkommen.
Was heißt es, wenn ich von der „besten“ Psychotherapie spreche? Damit ist eine Therapie gemeint, in der der Mensch in all seinen Dimensionen und seiner ganzen Tiefe angenommen wird und sich selbst annehmen kann; in der der ganze Mensch mit seinen am meisten verborgenen Geheimnissen, seiner ganzen Abgründigkeit aufgehoben ist und sich in seiner sensibelsten Intimität zeigen und erleben kann, auf daß sein Wille wieder deutlich werde und ihn im Alltag steuere und treibe. Davon konnte in meinem Falle absolut nicht die Rede sein.
Ich mußte diesen Mißerfolg untersuchen und kam zum Ergebnis, daß der Erfolg außerhalb der Primärtherapie – und folglich erst recht der ganzen Psychotherapie – zu finden sei.
Ich habe diesen Mißerfolg bereits in meinem Buch „Die Wahrheit – sie sagen und in ihr leben“ besprochen, werde aber darauf zurückkommen, weil es höchst wichtig ist, aus den Fehlern der Primärtherapie zu lernen und sich auch auf diese Weise das Wesen der Tiefenwahrheit weiter erschließen wird. Hier sei nur kurz angedeutet, daß es der Hauptfehler der Primärtherapie ist, die Patienten zu dirigieren und diese eben nicht sofort zu sich selbst kommen zu lassen. Das Hauptdirigat besteht darin, daß der Primärtherapeut den Kunden auffordert, „zu fühlen“, und daß dem Kunden gesagt wird, daß er, je mehr er „fühlt“, vornehmlich „Schmerz“ oder gar „Urschmerz“, er zum „Normalen“ oder zum „Primärmenschen“ oder einfach nur „real“ wird – all das, worin das Ziel des Kunden bestehen soll.
Ich streite selbstverständlich mitnichten die Bedeutung des Gefühls beim Wahrnehmen des Eigenen und und also bei der Beseitigung der Entfremdung ab, und ebenso gibt es sehr wohl Urschmerz – einen Schmerz, den die Menschheit nicht mehr gefühlt hat, bis ihn Janov wiederentdeckt hat („… den die Menschheit nicht wiedergefühlt hat“, muß es heißen, oder: nicht aus dem Unbewußten geholt hat, denn jedes Kind fühlt den Urschmerz ja zunächst kurz, bevor es ihn verdrängt und somit sich verliert).
Aber das Problem ist, daß sich der Verbesserungswünschende an das Vorgeschriebene und die Vorgabe hält und diese befolgt. Er muß das tun, und zwar aus der Not und dem starken Verlangen, seinen Zustand zum besseren zu verändern. Und aus Ermangelung eines besseren Verbesserungsangebotes.
Ab dem Moment, wo er dies tut, begibt er sich auf einen Irrweg, von dem er schlecht wieder wegkommt, weil er sich darin komplett verrennt: sein Leid und seine Erlösungssehnsucht halten ihn mit den unglaublichsten Kräften auf dieser falschen Bahn.
Arthur Janov schreibt sehr oft, wie er Patienten von Pseudo-Primärtherapeuten auflesen, d.h. übernehmen und sie wieder halbwegs auf einen guten Weg bringen mußte.
Es ist offensichtlich, daß es tatsächlich diese Pseudo-Primärtherapeuten gibt, Scharlatane, die die seit Jahrhunderten bedeutendste menschliche Leistung – eine anthropologische Revolution – in geradezu frevelhafter und gleichzeitig absolut lachhafter Weise vulgarisieren. Aber Janov muß sich diesen Schuh auch selbst anziehen. Er hat nun mal diese dirigistischen Vorgaben erlassen; es ist also nicht nur der Fehler jener „Pseudo-Primärtherapeuten“, Janov selbst ist so gesehen auch ein „Pseudo-Primärtherapeut“. Korrekter muß es so lauten: Janov ist ein sehr guter Primärtherapeut, aber eben kein Mann der Tiefenwahrsagerei.
In seinen letzteren Schriften kommt Janov immer wieder auf „Pseudogefühle“ zu sprechen und darauf, daß in diesen Pseudogefühlen das Hauptproblem der Primärtherapie besteht und daß Primärtherapeuten große Schwierigkeiten damit haben, diese Pseudogefühle zu erkennen.
Nun, diese Pseudogefühle gibt es in der Wahrsagerei nicht. Janov selbst hat seine Kunden in die Pseudogefühle getrieben. Das muß man so klar sagen. Er braucht sich nicht zu wundern. Wieso produzieren Kunden überhaupt falsche Gefühle, d.h. wieso spielen sie Gefühle vor? Janov sagt an unzähligen Stelle, daß es so ist; nirgends sagt er, wieso es überhaupt dazu kommt! Diese Frage zu stellen, käme einer harschen Kritik und Infragestellung seiner Theorie und Praxis gleich.
In meinem persönlichen Falle waren aber keine „Pseudogefühle“ für den Mißerfolg verantwortlich, sondern daß sich gar keine Gefühle entwickeln konnten. Es war mir zu blöd, Gefühle vorzutäuschen. Meine echten Gefühle, wie sie z.B. bei der einfachen Frage entstanden wären, warum ich überhaupt eine Primärtherapie unternehme, bekamen keine Chance und blieben komplett auf der Strecke. Das wären totale Verlorenheit, Vereinsamung und Traurigkeit gewesen.
Also nicht nur Pseudo- und Vulgär-Primärtherapeuten sind das Problem (diese in einem schandhaften Ausmaß!), sondern auch die Primärtherapie selbst. Und das ist der Grund, warum sie unterwunden werden und ein Paradigmenwechsel vorgenommen werden mußte. Die Tiefenwahrheit stellt in der Tat einen radikalen Wandel in der Seelsorge, eine mentalhygienische Revolution dar.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß alle großen Errungenschaften und Entdeckungen der Menschheit in den Dreck gezogen wurden und weiter in den Dreck gezogen werden, abartig vereinfacht und verfälscht, um jede tiefe Dimension beraubt werden. Sollte die Tiefenwahrsagerei bekannter werden und sich eines gewissen Erfolges erfreuen, so wird es nicht lange dauern, und Pseudo-Wahrheitsbegleiter werden ihre Kunden anschreien, endlich die Wahrheit zu sagen, und diese werden, total eingeschüchtert, vorauseilend schon irgend etwas sagen, von dem sie denken, daß es ihre Wahrheit ist und die der Wahrheits-Assistent hören will, was aber alles, nur nichts Wahres sein wird. (Was wird mein Anteil an dieser Verfehlung sein?)
Ich wiederhole:
Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß, wenn eine Psychotherapie in einem gewissen Maße erfolgreich werden konnte (das war vor allem die Primärtherapie, wenn auch leider nicht in meinem persönlichen Fall), dieser Erfolg darin bestand, daß in deren Praxis der Patient in der oben geschilderten Art er selbst sein kann.
Die Hunderte von verschiedenen psychotherapeutischen Schulen würden also eine Schnittmenge haben, die sich dadurch auszeichnet, daß den Patienten dabei geholfen wird, durch die Wahrheit zu sich selbst zu finden. Manche Schulen hätten einen sehr kleinen Anteil, manche einen größeren Anteil an dieser Schnittmenge, aber die Tiefenwahrheit wäre mit dieser Schnittmenge identisch.
Die Tiefenwahrheit hat keinen anderen Sinn und keine andere Aufgabe, als genau dies zu tun: dem Kunden die Gelegenheit zu geben, vollständig er selbst zu sein und seine ganze Wahrheit aussprechen zu können, vor allem aber sämtliche Begleiterscheinungen beim Aussprechen der Wahrheit zulassen zu können.
Und genau an dieser Stelle knüpft die Tiefenwahrheit an die Primärtherapie an, genau diese Eigenschaft und Fähigkeit, genau diese Toleranz gegenüber sämtlichen Manifestationen der Wahrheit, hat sie der Primärtherapie zu verdanken. Nicht ansatzweise kann eine andere Art von Psychotherapie hier mit der Primärtherapie mithalten. Dies zumindest – wie bereits gesagt – theoretisch (und in vielen Fällen bestimmt auch praktisch, wobei Arthur Janov bei der Bemessung seines Erfolges ganz sicher übertreibt).
Man kann der Primärtherapie – wie es der Intello sagt – das Normative und das Präskriptive vorwerfen, also daß sie bestimmte Vorgehensweisen über alle Patienten stülpt und die Patienten in eine bestimmte Richtung drängt. Des weiteren daß sie von bestimmten Prämissen ausgeht, die zwar stimmen mögen, aber nichts in der Praxis beim Umgang mit dem Patienten zu suchen haben. Aber trotz dieses Fehlers hat die Primärtherapie eines erreicht: in ihr und nirgends sonst hat der Kunde die Gelegenheit, sich vollständig in die Urtiefen seiner Seele und bis auf den Urgrund seiner Gefühle und seines Körpers fallen zu lassen.
Das ist zwar das Ziel der Primärtherapie, aber durch die Vorgaben wird es oft verhindert bzw. wird der Einstieg zu diesem Weg verunmöglicht. Wenn das geschieht – die echte Reise in das wahre Innere – dann passiert es oft trotz der Vorgaben, dann holt es sich der Kunde entgegen der primärtherapeutischen Techniken, weil er es besser weiß als sein Therapeut. Aber immerhin kann er sich darauf verlassen, daß, wenn er unterwegs in seine emotionalen Tiefen ist, der Primärtherapeut – der echte, nicht der Pseudo-Primärtherapeut – ihn nicht dabei stören oder ihn gar daran hindern wird. Primärtherapeutische Kunden, die dieses Selbstbewußtsein nicht haben, bleibt diese Chance verwehrt, sie bleiben auf der Strecke. Tragischerweise ist mangelndes Selbstbewußtsein bzw. mangelnde Selbstwahrnehmung einer der häufigsten Gründe, warum Menschen überhaupt eine Primärtherapie beginnen, und so gibt es weit mehr Mißerfolge in der Primärtherapie, als Arthur Janov es zugeben würde.
In der Praxis der Tiefenwahrheit entdeckt sich der Kunde. Er richtet sich nach keinen Postulaten wie dem „Willen zur Macht“ (Adler), dem „Ödipuskomplex“ (Freud), einem der „Archetypen“ (Jung), der „orgastischen Potenz“ (Reich) usw., auch keinem „Urschmerz“ (Janov) – Postulate, die es zu entdecken und zu erfüllen gälte, um sich besser zu fühlen.
In der Tiefenwahrheit muß aus dem Kunden nichts werden, kein „Normaler“, kein „Primärmensch“ („Ur-Mensch“, Janov)*, kein „genitaler Charakter“ (Reich) – nur er selbst. Er folgt sonst absolut keinem Ziel: Er will von vorn herein nichts anderes als er selbst sein bzw. wieder werden; insofern wäre – wenn wir schon einmal bei philosophisch-psychologischen Idealfiguren sind – nur Max Stirners „Eigner“ ein Ziel oder Ideal unseres Herangehens, ist dieser doch nichts anderes als das wahre Selbst eines jeden einzelnen, oder – wie Stirner seinen Eigner auch nennt – eines jeden „Einzigen“: ein jeder, wie er tatsächlich auf dem Grund seiner Wahrheit, d.h. unentfremdet ist (Gegensatz Eigenheit – Entfremdung). Der „Einzige“ ist eben nicht der Mensch an sich (das „menschliche Wesen“), sondern jeder je einzelne für sich. Wir unterstützen und ermutigen unsere Kunden ausschließlich auf diesem Weg: Werde und sei (wieder), der du bist. Wo Ich war, soll wieder Ich werden; wo niemals Ich war, soll endlich Ich werden.
Wenn es nicht das neue, posttherapeutische Paradigma gäbe und wir im Rahmen der Psychotherapie blieben, wäre die Tiefenwahrsagerei eine „phänomenologische Therapie“. Phänomenologie heißt nichts anderes, als die Dinge so zu sagen, wie sie sind, d.h. wie sie sich anfühlen und wie sie sich in inneren Bildern darstellen. Aber im Gegensatz zur Philosophie Martin Heideggers – dem Meister der Phänomenologie – ist die Tiefenwahrheit keine philosophische Veranstaltung. Heidegger hat versucht, das Kamel des Ganzen durch das Nadelöhr des Wortes zu jagen. Heidegger versucht, das mit Wortschöpfungen auszudrücken, was nur mit Taten auszudrücken ist. Heidegger verbalisiert alles; er übersieht in seinem Wortschwall, daß die Gefühle und der Körper ihre eigenen „Worte“ haben – sie äußern sich nicht wörtlich. Das Verbalisieren ist nicht nötig, verhindert im Gegenteil nur, daß die ganze Person lebendig und sie selbst wird.
* Der Gerechtigkeit halber: Janov spricht sehr wohl vom „Normalen“ als dem Ziel seiner Therapie (besonders in seinem ersten Buch „Der Urschrei“, „The Primal Scream“, 1970) und vom „Primärmenschen“ (Buch „Primal Man“, 1975), aber genau so gut und oft davon, daß der Patient nur er selbst sein bzw. werden soll.
Weiter zum 8. Abschnitt der Einführung
Übersicht Einführung