Eine mögliche Stunde der Tiefenwahrheit


Wie sieht möglicherweise eine Stunde der Tiefenwahrheit aus?

Der Kandidat beginnt die Stunde etwa damit, daß er in der Aktualität der Stunde ist, also das thematisiert, was er gerade jetzt fühlt und denkt. Oder aber er möchte von dem sprechen, was ihn überhaupt bewogen hat, in die Tiefenwahrsagerei zu kommen: etwas, das außerhalb der Praxis der Wahrsagerei liegt, was ihm Sorgen macht oder in die Verzweiflung treibt und was er mit Stunden der Tiefenwahrheit glaubt lösen zu können. Der Kunde hat ja irgendein Interesse an der Tiefenwahrheit. Mit diesem Bedürfnis fängt er an.

Der Wahrsageassistent hört ihm geduldig zu und ermutigt den Kandidaten vielleicht sanft, auf das zu achten, was er genau jetzt in sich fühlt, während er von seinen Problemen spricht. An eine Lösung oder was immer Verheißendes aus einer imaginierten und ersehnten Zukunft dem Kandidaten vorschwebt – darauf konzentrieren wir uns jetzt nicht, höchstens als einem Gefühl der Sehnsucht, des Leides und der Frustration. Worauf wir uns konzentrieren ist aber auch keine andere Vorstellung, kein anderer Traum davon, wie es sein müßte oder wie es sein könnte, damit wir nicht mehr diese Verzweiflung erleiden müssen, sondern: wir nehmen ganz einfach alles wahr, was sich aus unserem Körper heraus regt und gehen ganz in dieses wahre Gefühl hinein, identifizieren uns so vollständig wie möglich, wobei wir uns von nichts ablenken lassen und ausschließlich für uns selbst da sind.

Der Kandidat begann also damit, daß er z.B. sagt, daß er mit diesem oder jenem unzufrieden ist, das er ändern möchte, nur nicht weiß, wie. Er hat nur eine diffuse Ahnung davon, daß eine Tabula rasa, eine Rückbesinnung auf sich selbst die Dinge möglicherweise anders erscheinen lassen, als sie sich heute darstellen. Nehmen wir an, er bejaht das Konzept der Wahrsagerei und verspricht sich von Stunden der Wahrheit, daß diese dabei behilflich sein könnten, daß er es schafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Von diesem Ziel aber läßt er sich jetzt nicht ablenken oder einnehmen, stattdessen bleibt er bei sich und den Signalen seines Körpers, die er nun sich verstärken läßt. Der Fokus ändert sich, und er geht vom Modus des außerhalb der Wahrsagerei liegenden in den der Aktualität über. (Beide Zustände können sich ablösen.) In diesem bemerkt er, daß er nervös ist. Er sagt plötzlich, daß er nicht mehr weiß, weswegen er gekommen ist und was das alles überhaupt soll. Er greift womöglich den Assistenten verbal an (körperliche Angriffe sind verboten): dieser sei ein Scharlatan oder ähnliches. Der Assistent ermahnt und ermuntert ihn ganz ruhig, jetzt dabei zu bleiben, mehr zu sagen, weiter die Wahrheit auszusprechen. Das läßt sich der Kandidat nicht zweimal sagen fährt mit der Beschimpfung des Assistenten fort, ja legt nun richtig los. Er fühlt eine Wut und eine Verachtung in sich aufsteigen und gibt diesen Gefühlen nach, läßt diese durchbrechen. Er beläßt es keinesfalls bei nur verbalen Äußerungen, denn die Wahrheit ist – das merkt er jetzt sehr deutlich – emotional. Die Wahrheit beginnt mit Worten, aber es macht die Tiefenwahrsagerei aus, daß in ihr die Gelegenheit besteht, der Wahrheit unterhalb und hinter die Worte zu folgen. An dieser Stelle geht das Spezifische der Tiefenwahrheit erst einmal los; bis dahin ist es die übliche, die gedankliche und wörtliche Wahrheit.

Ausgangspunkt einer Tiefenwahrsprechstunde ist immer eine Art Unzufriedenheit, eine Art Spannung. (Aber es kann durchaus auch reine Neugierde oder Abenteuerlust sein. Oder eine Herausforderung, oder der Wille, zu beweisen, man lebe ja schon und sehr wohl in der Wahrheit.) Während der Sprechstunde kann die Spannung ansteigen, kann sich der Konflikt, unter dem der Kandidat möglicherweise leidet, verschärfen, ja erst einmal richtig deutlich werden. Dies kann dann zu einer Art Explosion führen, nach der vielleicht eine Art Talfahrt einsetzt. Der Kandidat, der gerade noch gehemmt war, öffnet nun die Schleusen und läßt in einem Wutanfall aus Frustration über den Konflikt in seinem Leben die ganze Wahrheit heraufließen, und zwar vollständig: Er sagt alles – bis nichts mehr da ist, was er noch sagen könnte. Und er sagt es unter möglichst vollständigem Einsatz seines Körpers und seiner Gefühle: das gehört immer zusammen. Alles strömt jetzt aus ihm heraus, die ganze Spannung entlädt sich, und er geht jetzt in andere Gemütslagen über: es kann sein, daß seine Wut mit einem male von Traurigkeit abgelöst wird oder auch von einem noch intensiveren Anfall von Verzweiflung. In der Frustration packt ihn vielleicht wieder die Wut und anschließend fängt er wieder an zu weinen usw. – Was in der Stunde der Tiefenwahrheit passiert, steht in keinem Programm und ist nirgends vorgegeben. Alles entwickelt sich einzig aus dem Inneren des Kandidat heraus. Was auch immer sich an Gefühlen oder Gedanken ablöst, wichtig ist nur eins: es ist echt, es fühlt sich echt an. Der Kandidat geht nur immer mit dem mit, was sich echt anfühlt.

Nichts von dem, was er sich vorstellt, was vielleicht seinen Konflikt lösen könnte, spielt jetzt eine Rolle; das muß völlig offen sein. Wir sind oben davon ausgegangen, daß der Kunde mit diesem oder jenem unzufrieden ist und dies ändern möchte, nur nicht weiß, wie. Es muß immer wieder daran erinnert werden, daß die Tiefenwahrsagerei ist nicht dazu da, Konflikte zu lösen. Wer Konflikte lösen möchte, sollte zu Mediatoren usw. gehen. In der Tiefenwahrsagerei geht es einzig und allein um die nackte Wahrheit. Ob die Wahrheit dabei behilflich sein kann, Konflikte zu lösen, interessiert uns hier nicht. Und sowieso: Wer außerhalb der Wahrheit leben will, bitte schön, ob nun mit oder ohne Konflikte. Wenn er aber seine Seele und seinen Körper in Lava verwandelt, werden sich völlig neue (oder die uralten) Strukturen wieder bilden; die Würfel fallen jetzt anders, und aus dieser neuen (uralten) Situation heraus stellen sich die Konflikte schon mal ganz anders dar – vielleicht geht es jetzt gar nicht mehr um eine „Lösung“.

Woher all diese Gefühle kommen, die sich jetzt Bahn brechen, das spielt zunächst keine Rolle. Das findet aber der Kandidat selber heraus. Es hat alles seine Logik, aber wir gehen jetzt nicht darauf ein. Jetzt, wo es um einen möglichen Einstieg in den Prozeß der Wahrwerdung geht, muß klar gemacht werden, daß sich Konflikte nur dann gründlich lösen lassen, wenn ihre Lösung gar nicht angestrebt wird und nur das energetische Potential mobilisiert werden soll: nur um den Frust über einen Konflikt oder auch um die Sehnsucht nach Erlösung von einem Konflikt geht es. Es geht nicht um Spekulationen, wie der Konflikt zustande gekommen sein könnte und sich vielleicht lösen lassen könnte. Das wäre eine sehr begrenzte Deutung des Begriffs Wahrheit. In die Wahrsagerei kommen aber ohnehin nur Leute, die mit ihrem Spekulations-Latein am Ende sind.

Es sei nur kurz angedeutet, daß alle Emotionen, die sich plötzlich manifestieren, einen in der Biografie des Kandidaten liegenden Sinn haben, der sich ihm nach und nach erschließen wird. Dazu muß er diese Emotionen aber erst einmal zulassen.

Irgendwann im Verlaufe der Wahrsagestunde kommt der Kandidat vielleicht zur Ruhe, oder er ist erschöpft und möchte die Erschöpfung auskosten und sich erholen. Er hat einigermaßen Fühlung mit sich selbst aufgenommen, hat sich relativ deutlich erfahren und entwickelt ein Gefühl des Eins-sein mit sich selbst. Ob sein Konflikt einer Lösung nähergebracht wurde und welche Rolle er möglicherweise im Zusammenhang seines gesamten Lebens spielt, hat uns an dieser Stelle immer noch nicht zu interessieren. Die Gefahr ist zu groß, daß wir in eine Mini-Wahrheit, in eine bloß intellektuelle „Wahrheit“ gehen, für die wir nicht in die Tiefenwahrsagerei gekommen sind. Der Assistent kümmert sich im übrigen nicht um diese Fragen, sondern folgt dem Kandidat nur dabei, wie dieser alle Bedeutungen und Lösungen selbst herausfindet (oder auch nicht); er stört ihn nicht mit Deutungen oder Empfehlungen oder Ratschlägen bei der Entdeckung und Vertiefung seiner Wahrheit.

Wahrscheinlich ist, daß der Kandidat, wenn er in den Stunden der Tiefenwahrheit bzw. an deren Enden öfter zur Ruhe kommt, diese Ruhe nach und nach auch nach außen in sein Leben trägt. Er entdeckt eine größere Ruhe, eine größere Ausgeglichenheit, und dies nicht durch Nachdenken, sondern durch Ausleben von Emotionen, die in ihm schlummern und für Unruhe gesorgt haben. Wehalb sie dort schlummern und was das zu bedeuten hat, dazu sagen wir an dieser Stelle nichts, weil das hier nichts zu suchen hat. Wen das jetzt doch interessiert, dem sei das Buch „Die Wahrheit – sie sagen und in ihr leben“, das erste theoretische Werk der Wahrsagerei, empfohlen.

In einem anderen Fall kann es in einer Stunde der Tiefenwahrheit beispielsweise nicht zu einer Entladung kommen. Hier geht es mehr um die Öffnung für die Wahrheit. Viele von uns sind verschlossen, gehemmt und von ihrer Wahrheit getrennt und abgeschlossen. Dieser Kandidat ist ebenfalls mit seinem Leben unzufrieden und sucht aus lauter Verzweiflung Hilfe in der Wahrsagerei, aber das alles ist für ihn sehr diffus. Er möchte endlich einmal die Dinge klarer sehen, um die es in seinem Leben geht. Aber das fällt ihm schwer, er schafft es nicht. Er ist verunsichert und wird eine gewisse Zeit brauchen, sich zu öffnen. Das kann sehr lange dauern und sich über etliche Sprechstunden der Wahrheit hinziehen. Aber auch hier sind Fortschritte zu erzielen. Bedingung dafür ist immer wieder, daß sich der Kandidat auf sich selbst und auf das, was er noch als Sicht der Dinge hat, konzentriert.

Wenn er es als wahr ansieht, daß er verschlossen und eingeschüchtert ist, dann wird er das so lange an- und aussprechen, bis ihm das An- und Aussprechen leichter fällt und einfacher über die Lippen kommt. Dazu muß er immer wieder versuchen, die Angst und die Scham zu unterwinden, indem er diese immer wieder thematisiert, solange er sie empfindet und von ihnen in die Unzufriedenheit getrieben wird. Wenn er dies konsequent weiterbetreibt, muß er früher oder später weniger gehemmt und weniger verschlossen werden; kein Lebewesen ist von Natur aus gehemmt und verschlossen. Eine Veränderung wird auch in diesem Beispiel die Folge sein, nachdem vielleicht der Kandidat schließlich doch in Wut über sein Schicksal gerät. Alles ist eine Frage der Beharrlichkeit, der Geduld, der Ausdauer und der Konsequenz, vor allem aber der Unzufriedenheit – diese treibt einen immer weiter. Es ist auch eine Frage des Mutes, aber wenn jemand erschöpfend immer wieder auf ganz wahrhaftige Art seine Angst und Feigheit wahrnimmt und sich zu ihnen bekennt, dann wächst automatisch der Mut.

Die Unzufriedenheit liegt nahe an der Frustration und diese an der Wut. Und wenn diese da ist, zieht das Leben wieder in einen ein und gibt schon wieder etwas mehr Orientierung: wir wissen schon wieder mehr, was wir wollen und was nicht. Noch tiefer legt einen die Trauer, die unter der Wut liegt; diese bringt einen noch näher zu sich selbst. Wenn gründlich geweint wird, nehmen Spannungen erheblich ab, und der Kandidat wird ein gehöriges Stück tiefergelegt.